Worüber sprechen wir, wenn wir über Sprache sprechen?

Booklet "Worüber sprechen wir, wenn wir über Sprache sprechen?“ - Sprachfördermaterialien und wertvolles Hintergrundwissen für den Kindergarten im Überblick

Unsere Sprachen haben sich über viele Jahre zu dem entwickelt, was sie heute sind: Ein hochkomplexes System aus Wörtern und Regeln, das uns ermöglicht, unsere Bedürfnisse zu artikulieren, Wissen zu vermitteln, über Sprachen in Beziehung mit anderen Menschen zu treten und die Welt um uns nachzuvollziehen. 

Diese Komplexität von Sprache sowie all ihre Teilbereiche und Ebenen zu verstehen, ist besonders für jene Berufsgruppen wichtig, die nicht nur Sprache selbst anwenden, sondern diese auch vermehrt an mehrsprachige Kinder vermitteln. Denn das reine "Sprachbad" reicht nicht mehr aus. 

Wir müssen im Kindergarten Sprache zunehmend lehren - dazu müssen wir sie aber selbst in ihrem Aufbau verstehen - und wer kann das ohne linguistisches Wissen?

Die ehrliche Antwort: Oftmals jene Personen, die Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache gelernt haben besser als wir, die die deutsche Sprache intuitiv in jungen Jahren, aber ohne das bewusste Verstehen des dahinter liegenden Regelaufbaus, gelernt haben.

Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, benötigen Pädagog:innen also zunehmend ein verändertes linguistisch fundiertes Basiswissen über Spracherwerbsverläufe ein- und mehrsprachiger Kinder. Ein Anspruch, dem in Ausbildungen und Professionalisierungs-lehrgängen noch viel zu wenig Beachtung geschenkt wird.  Das ist fatal, weil den Pädagog:innen in der sprachbildenden Praxis dieses wichtige Wissen fehlt!

Neue Materialien und Schulungsformate

Das haben die Kinderfreunde erkannt und nehmen es daher selbst in die Hand, dieses Wissen an ihre Pädagog:innen weiterzugeben. Sie entwickeln hierfür in ihren EU Projekten Materialien und Schulungsformate wie das nun vorliegende Booklet “Worüber sprechen wir, wenn wir über Sprache sprechen”, das am 24.01.2025 erstmals präsentiert wurde und im Rahmen des INTERREG VI-A Slowakei-Österreich Projektes eTOM SK-AT verfasst und finanziert wurde und somit kostenlos zur Verfügung steht.

Pädagog:innen erhalten so einen besseren Überblick über den kindlichen Spracherwerb in den Bereichen Wortschatz, innere Bilder, Grammatik, phonologische Bewusstheit und Aussprache. Gleichzeitig erhalten sie Lernmaterialempfehlungen für die anwendungsbasierte Vermittlung und Entwicklung dieser Kompetenzen. Das damit vermittelte sprachwissenschaftliche Grundwissen bezieht sich auf den aktuellen Stand der Spracherwerbsforschung. 

Ziel und Zweck dieses Vorhabens "Über Sprache sprechen" ist, ein Bewusstsein für die Vielschichtigkeit von Sprache zu vermitteln. Das ist notwendig, um die Ergebnisse von Sprachstandsfeststellungen kritisch und zweckorientiert interpretieren zu können sowie daraus ableitend Sprachbildungsangebote gut und individuell zu planen.

Über Sprache sprechen - fachkundig und mit ernsthafter Intention…

Über Sprache zu sprechen, ist nicht nur für die Berufsgruppe der Pädagog:innen wichtig, sondern auch auf politischer Ebene, jedoch vermissen die Kinderfreunde hierbei eine fachliche Tiefe und ernsthafte Auseinandersetzung.
Dass das Thema dringlich ist, wissen wir alle! Nur wenige wissen aber, dass aktuell angewandte Methodiken aufgrund der Heterogenität unserer Gesellschaft so nicht mehr funktionieren. Es sind Konzepte, die vor 20 Jahren effektiv waren - heute aber nicht mehr!
Was braucht es heute, damit wir Kinder von Beginn an gut sprachlich begleiten können? Wo sind Herausforderungen und wie begegnen wir diesen fachlich fundiert?
Wie kann eine moderne Sprachbildung aussehen und wie gelingt es uns, Pädagog:innen dahingehend gut zu professionalisieren?

Das Thema der sprachlichen Bildung ist zunehmend komplex, ressourcenintensiv und bedarf guter Rahmenbedingungen, wenn die Intention ist, die Sprachkompetenzen der Kinder zu verbessern.

Die Stellschrauben, an denen gedreht werden muss, sind aus Sicht der Kinderfreunde folgende:

1. Die Anwendung neuer Sprachkonzepte

Der Kindergartenalltag zeigt, dass es heute nicht mehr ausreicht als Pädagog:in die deutsche Sprache im Kindergartenalltag zu sprechen. Vielmehr sollte sie auch zunehmend mehrsprachigen Kindern bewusst hinsichtlich ihres Zweitspracherwerbs vermittelt werden.

Sprachmodelle, die noch vor 20 Jahren erfolgreich waren, wie bspw. das bekannte "Sprachbad", sind durch die veränderten sprachlichen Zusammensetzungen in den Kindergartengruppen so nicht mehr zielführend. Es bedarf vermehrt konkreter Sprachförderung durch die Pädagog:innen in Deutsch, aber eben auch deren Wissen über die mitgebrachten (Erst-)Sprachen der Kinder, um diese gut in der Zweitsprache fördern zu können. Also Sprachförderung unter Berücksichtigung der Mehrsprachigkeit der Kinder.

Um dies zu tun, bedarf es des Wissens über die Sprachstrukturen der Erstsprachen der Kinder und Wissen, wie individuell gefördert werden muss. Das wiederum setzt ein komplett verändertes Wissen und sprachensensibles Handeln der Pädagog:innen voraus, welches aktuell noch viel zu wenig in der Aus- und Fortbildung vermittelt wird.

Damit Sprachförderung effektiv und nachhaltig ist, sollte sie unbedingt alltagsintegriert und von der Pädagog:in selbst umgesetzt werden. Hier braucht es neue verbesserte und verschränkte Konzepte zwischen alltagsintegrierter und additiver Sprachförderung, mehr Zusammenarbeit der Träger und eine veränderte Mittelverteilung der 15A Gelder für sprachliche Bildung?

2. Professionellen Begleitung der Kindergärten

Damit Pädagog:innen das neu erworbene Wissen tatsächlich auch anwenden und danach performen können, bedarf es zum einen einer langfristigen und permanenten Begleitung dieser durch Modelle der Standortbegleitung wie Fachberatungen oder Sprachbegleiter:innen und zum anderen der Qualifizierung auch auf Leitungsebene, die die Implementierung dieser neuen Sprachmodelle auch mitunterstützt und in ihrer Qualität absichert.

Die Wiener Kinderfreunde haben ihre Erkenntnisse zum Thema Mehrsprachigkeit bereits 2019 im Handbuch „Mehrsprachigkeit neu denken“ zusammengefasst und dieses Wissen auch über eigene Schulungskonzepte an ihre Kindergartenleitungen vermittelt. Für Pädagog:innen gibt es den internen Lehrgang „Handlungsfeld Sprache“, im Ausmaß von 6 ECTS, der ihnen sehr praxisorientiert viele wichtige Inputs zur sprachlichen Bildungsarbeit gibt. Darüber hinaus werden einige Kinderfreunde Kindergärten im Rahmen von eTOM SK-AT als Pilotprojekt von der Sprachexpertin Maga Zwetelina Ortega in Form einer Standortbegleitung über 3 Jahre sehr intensiv unterstützt.

3. Unterstützung der Eltern

Auch Eltern gehören in der sprachlichen Bildung ihrer Kinder gut begleitet und beraten - auch aufgrund der zunehmenden digitalisierten Lebenswelt ihrer Kinder, die auch vermehrt  negative Auswirkungen auf die sprachliche Entwicklung von Kindern zeigt. Deshalb haben die Wiener Kinderfreunde 2019 im Rahmen der EU-BIG-Projekte die Broschüre „Sprich mit mir und hör mir zu“ in sieben Sprachen produziert. Sie beinhaltet 15 Anleitungen wie Eltern die mehrsprachige Erziehung in ihren Familien gut und nachhaltig unterstützen können. Die Broschüre steht auf unserer Homepage zum Download bereit. Im Bereich einer kritischen digitalen Medienbildung arbeiten die Kinderfreunde ebenfalls aktuell Materialien für die Elterninformation aus.

4. Forderung nach verbesserten Rahmenbedingungen

Und nicht zuletzt braucht gute sprachliche Bildung vielfältige Sprechanlässe von Seiten der Pädagog:in. Und natürlich Zeit, damit die herausfordernde Aufgabe, mehrsprachige Kinder beim Erlernen einer neuen Sprache zu unterstützen, wirklich gut gelingen kann.

Dies ist jedoch unter den aktuellen Rahmenbedingungen kaum umsetzbar. Damit es gut gelingt, müssen sich die Gruppen verkleinern und der Betreuer-Kind-Schlüssel verändern. Hier braucht es dringend den politischen Willen, die Rahmenbedingungen zu verbessern, um den Pädagog:innen die Zeit zu geben, die es braucht, sich weiterzubilden und auf die veränderten Herausforderungen gut einzustellen.

MIKA-D-Test ein unspezifisches Verfahren

Aktuell führen wir gerade die Debatte, dass viele Erstklässler mangelnde Deutschkenntnisse haben und daher mit einem a.o. (außerordentlichen) Status in die Schule kommen.

Was sagen die Kinderfreunde hierzu und warum gibt es den MIKA-D –Test überhaupt?

Die Zahlen der "Kinder ohne Deutsch" basieren auf den Ergebnissen des sogenannten Messinstruments zur Kompetenzanalyse – Deutsch, kurz MIKA-D, dem seit 2019 österreichweit verpflichtenden Sprachdiagnoseverfahren, das auch im Zuge der Schuleinschreibung eingesetzt wird.  Er wurde im Auftrag des Bildungsministeriums entwickelt, um die Zuteilung in verschiedene Sprachfördermaßnahmen (nach § 8h SchOG) zu objektivieren.

Durch den Einsatz von MIKA-D bei der Schulreifeprüfung stellt die/der Direktor:in fest, ob die Kinder ausreichend gut Deutsch sprechen können, um dem Unterricht zu folgen  Wenn dies nicht der Fall ist, wird ein (außer-)ordentlicher Status der Schüler:innen festgelegt und das Kind zu Sprachfördermaßnahmen (Deutschförderklasse oder Deutschförderkurs) zugeteilt.  Beim Test selber sollen die Kinder durch das Beschreiben von Situationen auf einem Wimmelbild Fragen beantworten oder Sätze vervollständigen, die in eine Geschichte über den MIKA Löwen eingebettet sind.

Aus (sprach)wissenschaftlicher Perspektive ist MIKA-D allerdings unzureichend: Das Verfahren ist unspezifisch und in mehrfacher Weise mangelhaft.

Allein die Tatsache, dass Kinder mit nichtdeutscher Erstsprache automatisch einer Testung unterzogen werden und andere nicht, führt zu einer Ungleichbehandlung und Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft, die im Zusammenhang mit der Angabe der Erstsprache erfolgt. Es wird davon ausgegangen, dass Kinder, deren Erstsprache nicht Deutsch ist bzw. deren Eltern im Ausland geboren sind, Deutsch nicht beherrschen. Es wird weder berücksichtigt, ob sie österreichische Staatsangehörige oder in Österreich aufgewachsen sind, noch ob sie die Kinderkrippe und/oder den Kindergarten für ein oder drei Jahre in Österreich besucht haben.

Es ist oftmals eine subjektive Entscheidung der Direktorin, welches Kind getestet wird und welches nicht. Darüber hinaus sind Testsituationen bei so jungen Kindern immer kritisch zu bewerten: In einer ungewohnten Situation, vor fremden Personen sprechen die wenigsten Kinder angstfrei.

Abgesehen davon ist wissenschaftlich bisher gar nicht definiert, welche sprachlichen Anforderungen Unterricht an Kinder überhaupt stellt. MIKA-D gibt also einerseits vor, etwas zu messen, für das es noch keine linguistische Datenbasis gibt. Andererseits werden mit den tatsächlichen MIKA-D-Kriterien ganz andere Kompetenzen überprüft als jene, die im Unterricht benötigt werden. Das Verfahren ist jedenfalls nicht dazu geeignet, den Deutschkompetenzstand von mehrsprachigen Kindern adäquat festzustellen.

Sprache zu erlernen ist ein sehr komplexer Prozess und ergibt sich sowohl aus biologischen, kognitiven und sozio-affektiven Faktoren, und nicht nur aus der Sprachproduktion alleine: bei MIKA-D wird aber nur auf diese eine Fähigkeit geschaut.

Das einzige, was dieser unzureichende Test bewirkt, ist Daten zu liefern, die nur Vorurteile bestärken.

Welche Alternativen gäbe es zum Test?

Viele Träger wie auch die Wiener Kinderfreunde arbeiten mit Portfolios, also Bildungs- und Entwicklungsdokumentationen der Kinder, welche auch bei der Schuleinschreibung bzw. Schuleingangsphase gut zur Sprachkompetenzeinschätzung verwendet werden könnten. Denn was und wie erzählt wird, gibt Auskunft über die Sprachkompetenz und lässt einen individualisierten und ganzheitlichen Blick auf Kind zu (etwa in Bezug auf Interessen, Weltwissen, soziales Umfeld, graphomotorische Entwicklung, etc.). Bildung kostet

Wenn wir bzw. die Politik tatsächlich in diesem Thema etwas bewirken wollen, brauchen wir eine sachliche und fundierte Debatte. Dabei muss zuallererst eines klar gesagt werden: Bildung kostet.

Diese Kosten wären gut investiert...

  • ... in eine standortspezifische Mittelverteilung an jene Kindergärten mit hohem Bedarf an Sprachförderung, damit Benachteiligung ausgeglichen und nicht verstärkt wird.
  • ... in die Sicherstellung der pädagogischen, insbesondere sprachförderlichen Qualität in Kindergärten, die selbstverständlich auch mehr Personal und damit verbunden mehr Mittel (finanzielle und zeitliche Ressourcen) für Fort- und Weiterbildung benötigen.
  • ... in den Verzicht von unwirksamen Testungen zugunsten eines "Mehr" an sprachlich qualifiziertem Personal - für Kindergärten und Schulen
  • ... und in ein durchgängiges Konzept von Sprachförderung vom Kindergarten bis zur Schule. Denn Sprachenlernen braucht Zeit (bei mehrsprachigen Kindern mindestens 6-8 Jahre). Der Kindergarten alleine kann dies daher auch zeitlich nicht leisten!
     

Drin Karin Steiner